„Ich muss keine Ziele haben – wer kommt auf solche Ideen?“
„Wenn Sie heute nachdenklich nach Hause gehen, haben wir unser Ziel erreicht“, sagt Willem Kleine Schaars am Ende einer hochinteressanten Fachtagung der LAG Wohnen.
Kleine Schaars und Prof. Dr. Daniel Oberholzer waren die beiden Referenten, die ihre Ansätze zu Teilhabe von beeinträchtigten Menschen den gut 50 Teilnehmern in Bad Nauheim vorstellten. Dabei wurde das Plenum teilweise auf völlig neue Wege mitgenommen, durfte sich auf völlig neue Gedanken und Herangehensweisen für ihre tägliche Arbeit - vornehmlich in Wohnhäusern der Eingliederungshilfe betreffend - einlassen.
Prof. Dr. Oberholzer vom Institut für Professionsforschung und -entwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW (Fachhochschule Nordschweiz) stellte seine wissenschaftliche Forschung zum „Guten Leben in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen“ dar. Im Zentrum seiner Ausführungen steht der Fähigkeitsansatz, der Capability Approach. Dieser ist eine grundlegende Theorie der Gerechtigkeit, die das Ziel hat, jeden Menschen ein Leben in Würde zu ermöglichen.
„Es ist ein langer, harter Weg hin zu voller und wirksamer Teilhabe“, sagt Oberholzer. Man müsse Teilhabe verändern, um sie für verschiedene Menschen zu ermöglichen. „Es geht um Chancengleichheit. Teilhabe braucht Teilhabe-Chancen. Wir müssen Chancen anpassen, damit sie überhaupt von Menschen mit Behinderungen wahrgenommen werden können“, so Oberholzer.
Denn Chancen, die wahrgenommen werden können, bedeuten Möglichkeiten. Und jede Möglichkeit hat ein eigenes Profil. Menschen, denen Möglichkeiten geboten werden, könnten dann individuell auswählen, welches Profil zu ihnen passt. „Das Leben ist nie maximal, sondern immer eine Annäherung an das Optimale des Einzelnen“, sagt Daniel Oberholzer.
Er kritisiert scharf den Status quo. Der Großteil des Systems sei nicht teilhabeorientiert, sondern angebotsorientiert. „Jemand braucht ein Bett, jemand bekommt ein Bett, jemand liegt im Bett“ – das sei die herrschende Versorgungslogik. Reine Versorgung gehe aber an den Bedarfen der Menschen vorbei. „Bedarfe entstehen, wenn ich irgendwo bin. Bedarfe sind dann feststellbar, wenn der Mensch da ist“, so Oberholzer. Erst dann, erst wenn der Raum auf die Menschen reagiere, entsteht für die Menschen ein gutes Leben.
In den Einrichtungen müsse man weg vom ständigen Dokumentieren und dem Erreichen von irgendwelchen Zielen. „Ich muss keine Ziele haben – wer kommt auf solche Ideen“, fragt Oberholzer. Die aktuelle Arbeit in der Behindertenhilfe charakterisiert er kurz und knapp: „Wir schaffen Versorgung statt Teilhabe!“
„Das Haus gehört den Bewohnern!“
Möglichkeiten bieten – davon geht auch der Ansatz von Willem Kleine Schaars aus. „Es geht um Möglichkeiten und nicht um Unmöglichkeiten“, sagt der Niederländer, der sein nach ihm benanntes Betreuungskonzept für die Behindertenhilfe vorstellte.
Die Grundhaltung in den Einrichtungen sei: Ich sorge gut für die Bewohner. Die Wahrheit aber sei: Es geht kaum um die Bewohner. „Daher rede ich auch nicht über zu viel oder zu wenig Personal, sondern es geht nur darum, was will der Bewohner, was kann der Bewohner“, sagt Kleine Schaars.
Anhand eines Videos aus dem Alltag, das eine Situation in einem Wohnhaus während des Abendessens zeigt, demonstriert Kleine Schaars, worum es ihm geht. Im Video ist eine gewöhnliche Essenssituation zu sehen. Fünf beeinträchtigte Menschen sitzen gemeinsam an Tischen. Das Ungewöhnliche: Es ist kein Personal dabei. „Die Bewohner können viel mehr als Mitarbeiter denken“, sagt Kleine Schaars. Und tatsächlich: Die Bewohner unterstützen sich. Bewohnern mit größerem Hilfebedarf wird von anderen Bewohnern geholfen, die Butter aufs Brot geschmiert, die Käsescheibe auf das Brot gelegt. Alles, ohne, dass ein Mitarbeiter dabei ist oder sogar die Brote selbst schmiert und serviert für die Bewohner.
„Möglichkeiten geben. Plötzlich hat jeder Bewohner seinen Verantwortungsbereich. Es gibt keinen Streit, alle sind zufrieden und: Niemand der beteiligten Bewohner sucht oder ruft nach einem Betreuer“, so Kleine Schaars.
Einrichtungsverantwortliche und Mitarbeitende sollten sich vor allem eines bewusst machen: Es ist das Haus der Bewohner. Für die Angestellten ist es lediglich ein Arbeitsort. Daher machen auch die Bewohner die Regeln. Mitarbeiter sollten nur präsent sein, wenn ein Bewohner etwas nicht kann.
In seiner WKS-Methode nimmt die Prozessbegleitung einen wichtigen Raum ein. Denn im Gegensatz zum Alltagsbegleiter als Bezugsperson, bekommt der Prozessbegleiter einen anderen Blick auf Situationen, einen Blick von außen.
Während Alltagsbegleiter mit dem Bewohner besprechen und ausprobieren, wie und wobei Unterstützung gegeben werden soll, nimmt der Prozessbegleiter eine neutrale Haltung ein. Er gibt keine eigene Meinung ab, er schlägt keine Ideen vor, er beobachtet genau die Situation, hört zu und fragt nach. Das Ziel: Bewohner werden durch die neutrale zuhörende Haltung beim Nachdenken unterstützt, um eigene Entscheidungen zu treffen und ihre persönlichen Lösungen zu finden.
„Wir reglementieren zu viel, die Mitarbeiter bestimmen zu sehr, was gut oder nicht gut ist für die Bewohner“, so Kleine Schaars. Seine Grundhaltung lautet: Jeder Mensch hat die Regie über seine Möglichkeiten. Alle Menschen haben Grenzen in ihren Möglichkeiten, die einen mehr, die anderen weniger. Wichtig ist aber, dass das, was jeder selbst bestimmen kann, so auch umsetzen darf. Einhergeht damit, dass jeder für sein Handeln auch die Verantwortung trägt.